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9.September 2006,   15:03, NZZ Online

Amerika– weiterhin die «unentbehrliche Nation»

FünfJahre nach 9/11 gleicht die neue Weltordnung zunehmend der alten

DieTerrorattacke vom September 2001 hat eine schockartige Wirkung erzielt und die USAzu zwei Kriegen bewogen. Trotzdem mehren sich die Anzeichen, dass in der amerikanischenPolitik erneut der Alltag einkehrt. «9/11» war offenbar doch keine tiefe welthistorischeZäsur.

Vonunserem Amerika-Korrespondenten Andreas Rüesch

Washington,8. September

Dort,wo Usama bin Ladins Selbstmordkommandos mit ihren entführten Flugzeugen die Zwillingstürmedes World Trade Center zum Einsturz brachten, klafft fünf Jahre später noch immereine Lücke in der Skyline von New York. Doch der Bau des Freedom Tower, der mit seinen1776 Fuss Höhe dereinst an das Gründungsjahr der Vereinigten Staaten erinnern sollund höher als die Twin Towers in den Himmel ragen wird, hat begonnen. Soeben wurdendie Pläne für drei weitere Wolkenkratzer auf demselben Areal vorgestellt. Was treibtamerikanische Geschäftsleute dazu, unbeirrt nach oben zu bauen und Büros in solchenGlaspalästen zu beziehen? Ist es trotziger Patriotismus oder feste Gewissheit, dasssich der damalige Horror nie wiederholen wird? Sicher ist, dass trotz der ständigenErinnerung an den «11. September» durch Fernsehbilder und drastische Kinofilme rundum die Welt neue Wolkenkratzer entstanden sind.

KeineZeitenwende

DieRückkehr zur baulichen Normalität ist nicht das einzige Zeichen von Kontinuität. Nachfünf Jahren stellt sich mehr denn je die Frage, ob die Terrorattacke vom September2001 Amerika und die Welt wirklich so fundamental umgewälzt hat, wie das immer behauptetwurde. Es mehren sich die Zeichen für das Gegenteil. Gewiss – die USA stecken in einemneuartigen Mehrfrontenkrieg: im Irak (ohne «9/11» wäre es nicht zu dieser Invasiongekommen), in Afghanistan und in einem mit militärisch-geheimdienstlichen Mittelnausgefochtenen Kampf gegen Terrorzellen auf vier Kontinenten. Bombenattentate im Irakbestätigen täglich, dass Terror weiterhin die bevorzugte Waffe islamistischer Radikalerist, während verschärfte Kontrollen in den Flughäfen die Amerikaner auch im eigenenAlltag ständig an die Sicherheitsrisiken erinnern.

Dennoch:War der Angriff al-Kaidas wirklich ein Wendepunkt in der Weltgeschichte? Zu Rechtkommt die amerikanische Fachzeitschrift «Foreign Policy» in einem Leitartikel zumSchluss, dass 1991 – das Jahr des Untergangs der Sowjetunion – eine viel tiefere Zäsurdarstellt. Sie hat die USA als einzige Hegemonialmacht mit weltweiter Ausstrahlungzurückgelassen und damit auch als erstrangiges Ziel fanatischer Muslime, die den Islamdurch die westliche Übermacht bedroht sehen.

Kontinuitätüberwiegt

«Nichtswird je wieder so sein, wie es einmal war», hatten Kommentatoren vor fünf Jahren verkündet.Heute erinnert in der Weltpolitik wieder vieles an die Zeit vor 2001: Die USA bastelnim Uno-Sicherheitsrat an Koalitionen zur Lösung verschiedener Konflikte, während Russlandund China mit dosiertem Widerstand ihre Eigenständigkeit demonstrieren. Die vielleichtwichtigste Entwicklung des letzten Jahrzehnts, Chinas Aufstieg zur Grossmacht, istweitergegangen – von den Ereignissen in der islamischen Welt völlig unbeeinflusst.Auch die Globalisierung hat keinen Rückschlag erlitten: Das Welthandelsvolumen hatvon 2000 bis 2005 nominell um mehr als die Hälfte zugelegt.

Selbstim Nahen und Mittleren Osten gibt es auffallende Kontinuitäten: Die Kernfrage im Streitzwischen Israeli und Palästinensern bleibt weiterhin, wer wie viel Boden zwischenMittelmeer und Totem Meer besitzen darf. Neu ist auch der Fall Iran nicht: Nahm manin den Monaten vor «9/11» eine amerikanische Zeitung zur Hand, konnte man schon damalsviel über den befürchteten Griff der Ayatollahs nach der Atombombe lesen. Trotz PräsidentBushs Freiheitsdoktrin hat auch die vielbeschworene Politik zur Förderung der Demokratiein der arabischen Welt keine tiefen Spuren hinterlassen. In Ägypten, Jordanien undSaudiarabien sind dieselben autoritären Herrscher an der Macht. Mehr noch: Als Garanteneiner gewissen Stabilität sind sie in Washington weiterhin gerngesehene Partner.

ObwohlExtremisten manchmal «den» Islam oder «die» Christenheit als Feindbild propagieren,ist der befürchtete «Zusammenprall der Zivilisationen» ausgeblieben. Dies hat kürzlichselbst der Vater der Theorie vom «Clash of Civilizations», Samuel Huntington, betont.Die islamische Welt sei in sich stark gespalten, in verschiedene Staaten und verschiedeneAuslegungen des Islams. Nach Ansicht des Harvard-Professors hätte alles viel schlimmerkommen können, etwa wenn sich die muslimischen Länder auf eine geeinte, antiwestlicheKoalition verständigt hätten.

UnangefochteneFührungsrolle

Unddie Rolle der USA in der Welt? «America stands alone as the world’s indispensablenation», hatte Präsident Clinton 1997 in der Antrittsrede zu seiner zweiten Amtszeiterklärt. Die unentbehrliche Nation ist es auch heute noch – darüber kann selbst dergrassierende Antiamerikanismus nicht hinwegtäuschen. Arabische Kommentatoren mögenüber die USA wettern, aber auf der Suche nach einem Schiedsrichter im israelisch-palästinensischenKonflikt schauen sie noch immer instinktiv nach Washington. Verhandlungen mit Iranoder Nordkorea räumt niemand Erfolgschancen bei, wenn nicht die USA dabei sind. Inder Uno sind die Amerikaner häufig isoliert, aber sie können dort weiterhin mehr bewegenals jedes andere Land. Ein Kritiker der Administration Bush, der Vize-GeneralsekretärMark Malloch Brown, hat dies kürzlich auf eine einfache Formel gebracht: «Wir (dieUno) brauchen die USA viel mehr als sie uns.»

Selbstin der Frage der Menschenrechte, in der Amerika in den letzten Jahren viel Prestigeverspielt hat, bleibt es unentbehrlich. Kein anderes Land kann international ebensowirksam gegen gravierende Menschenrechtsverstösse auftreten wie die USA. Dass dieMisshandlungsskandale in Abu Ghraib und Guantánamo im In- und Ausland einen solchenAufschrei ausgelöst haben, während die ganz normale Folterpraxis von Unrechtsstaatenkaum zur Kenntnis genommen wird, hat nicht nur mit Antiamerikanismus und Schadenfreudegegenüber Bush zu tun. Die Kritik folgt der Erkenntnis, dass ein moralisch hochangesehenesAmerika für die weltweite Sache der Menschenrechte wichtiger ist als zahnlose internationaleGremien. Die Unentbehrlichkeit der USA zeigt sich, wenn ein geschwächtes Amerika seineFührungsrolle nicht zu spielen vermag. Ein schmerzliches Beispiel dafür ist Darfur.Washington hat das Blutvergiessen in der westsudanesischen Region zum Völkermord erklärt,wegen der Überlastung mit anderen Problemen aber nur punktuell auf eine Friedenslösunghingearbeitet. Derweil lassen die übrigen Grossmächte erst recht keinen Willen zumHandeln erkennen; in Europa hat das Thema nur schon Mühe, auf die Frontseiten derZeitungen zu kommen.

Rückkehrzum politischen Alltag

Der«11. September» hat das weltpolitische Gefüge somit nicht über den Haufen geworfen.Trotzdem hat er wichtige Verschiebungen gebracht. Die Terrorbekämpfung bleibt aufabsehbare Zeit die höchste Priorität der USA. Aus dem Morast der Irak-Politik wirdBush wohl bis zum Ende seiner Amtszeit nicht mehr herausfinden. Auch in Afghanistan,wo die Taliban auf alarmierende Weise erstarkt sind, dürften sich die USA noch langezu einer Militärpräsenz gezwungen sehen. Dennoch scheint es, dass in die amerikanischePolitik wieder der Alltag eingekehrt ist.

Der«11. September» hat wohl keine neue Ära eingeläutet, sondern nur eine Ausnahmesituationvon begrenzter Dauer geschaffen. Diese Sonderperiode war durch drei Elemente geprägt:Nach aussen einerseits von der Bereitschaft, im Alleingang Präventivkriege gegen «Schurkenstaaten»mit Beziehungen zu Terroristen und Ambitionen auf Massenvernichtungswaffen zu führen.Anderseits verhalf «9/11» der Idee zum Durchbruch, dass die Vereinigten Staaten nachhaltigin die arabische Welt eingreifen müssen, um der Region Entwicklungshilfe in SachenDemokratie zu leisten und damit dem radikalen Islamismus den Boden zu entziehen. Innenpolitischwar diese Phase vom Versuch geprägt, die Grenzen der Regierungsmacht bei der Terrorbekämpfungmöglichst extensiv auszulegen, sei es bei der Festlegung neuer Verhörmethoden im Graubereichzur Folter, sei es bei der Anordnung von Überwachungsmassnahmen ausserhalb der normalengesetzlichen Bahnen.

Hinwendungzum Pragmatismus

Aufallen drei Ebenen bewegt sich das Pendel inzwischen in die Gegenrichtung. Erstensist den USA die Lust auf opferreiche Abenteuer à la Irak vergangen. Bush hat einenhohen politischen Preis dafür bezahlt und beinahe die Wiederwahl verpasst. Auch inseiner Personalpolitik erkennt man den Umschwung: Die sogenannten Neokonservativen,die völlig übertriebene Erwartungen auf eine Umgestaltung der arabischen Welt geweckthatten, sind mehrheitlich aus der Regierung verschwunden. Die Zügel in der Aussenpolitikhält nun die ideologisch weniger rigide Condoleezza Rice. Sie tut dies zunehmend mitden Mitteln der klassischen Realpolitik, indem sie auf geduldige Diplomatie setztund Allianzen schmiedet. Die «Präventivkrieg-Doktrin» war 2002 zwar unter ihrer Leitungformuliert worden, aber davon spricht Rice heute nicht mehr.

Zweitenshat sich rund um das Thema Demokratieförderung bis in die Präsidentenpartei hineinErnüchterung ausgebreitet. Richard Haass, der dem Council on Foreign Relations vorstehtund bis 2003 den Planungsstab im Aussenministerium leitete, sieht Bushs Demokratie-Theoriedurch die Erfahrungen widerlegt. Wie Grossbritannien zeige, könne der Terrorismusauch in reifen Demokratien einen Nährboden finden. Im Irak gebe es heute zwar mehrDemokratie, aber auch mehr Gewalt. Die Hamas und der Hizbullah hätten trotz erfolgreicherTeilnahme an Wahlen der Gewalt nicht abgeschworen. Selbst wenn Demokratie langfristigdie richtige Antwort sei, nehme ihr Aufbau Jahrzehnte in Anspruch. Noch kategorischeräusserte sich vor ein paar Monaten der Vorsitzende des Komitees für Aussenpolitikim Repräsentantenhaus, Henry Hyde: «Demokratie in weite Gebiete einzupflanzen, würdevoraussetzen, dass wir grenzenlose Macht besitzen und uns zu einem grenzenlosen Einsatzvon Zeit und Ressourcen verpflichten, was wir nicht tun können und nicht tun werden.»

Drittensist Bush auch innenpolitisch längst vom Alltag eingeholt worden. Die Schonfrist nachder Terrorattacke dauerte nur ein Jahr; inzwischen nutzen die Demokraten jede Blössedes Präsidenten aus. Der Kongress pocht wieder stärker auf seine Kontrollfunktion,und das Oberste Gericht pfiff Bush in wesentlichen Punkten der Gefangenen-Politikzurück. Es spricht Bände, wenn die Administration nun den Kongress bittet, eine Gesetzesgrundlagesowohl für die Militärtribunale in Guantánamo als auch für die Abhöraktionen des GeheimdienstsNSA zu schaffen – beides betrachtete Bush bis vor wenigen Monaten als ausschliesslichseinen Kompetenzbereich. Offensichtlich ist die Sonderperiode auch in dieser Beziehungzu Ende. Die Kongresswahlen im November dürften die Handlungsfähigkeit des Präsidentenweiter schmälern. Laut Prognosen wird er sich danach nur noch auf knappe Mehrheitenstützen können oder sich im Repräsentantenhaus sogar einer demokratischen Mehrheitgegenübersehen. Auch das wäre nichts anderes als eine Rückkehr zur amerikanischenNormalität – die jahrelange Dominanz einer einzelnen Partei in Washington ist nämlicheher selten.

Wiesicher ist das Land?

«Normalisiert»hat sich auch die Anti-Terror-Arbeit im Inland. Die Justizbehörden erhoben im laufendenJahr in 19 Fällen Anklage wegen Delikten mit angeblich terroristischem Hintergrund.Das ist nur noch ein Bruchteil der 355 Anklagen im Spitzenjahr 2002. Die Zahl derStrafverfolgungen liegt damit wieder in einem ähnlichen Rahmen wie vor dem «11. September».Doch bedeutet dies, dass die USA auch wirklich sicherer geworden sind? Der Bau derneuen Wolkenkratzer am «Ground Zero» strahlt entsprechenden Optimismus aus. Angesichtsder verschärften Kontrollen im Flugverkehr und der verbesserten Zusammenarbeit derSicherheitsdienste gilt es als unwahrscheinlich, dass Terrorpiloten erneut Flugzeugeals Massenvernichtungswaffen gegen amerikanische Städte einsetzen könnten. Aber dasvor Monatsfrist in Grossbritannien aufgedeckte Komplott, Flugzeuge mit Flüssigsprengstoffin die Luft zu jagen, zeigt die andauernde Bedrohung. Anders als Europa, Afrika undAsien ist Amerika fünf Jahre lang von Terroranschlägen verschont geblieben. Ein einzigesverheerendes Attentat würde genügen, um die USA erneut in einen Ausnahmezustand zukatapultieren.

 
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